Eine Frage, die ich mir zu Beginn
der Lektüre dieser 800-Seiten dicken Reportage gestellt habe, war, ob es heute
überhaupt noch interessant ist, zu lesen, was zwei Journalisten 1997 in den USA
veröffentlicht hatten. Zumal die Geschehnisse, die sie beschreiben, das Jahr
1993 betreffen. Um die Antwort vorwegzunehmen. Es war mehr als nur interessant
dieses Buch zu lesen. In seinen besten Momenten hat es mich tief berührt und
mich dazu gebracht, meine eigenen Standpunkte zu hinterfragen. Was will man
mehr erwarten?
David Simon, der später basierend
auf THE CORNER die Fernsehserie „The Wire“ schuf und der ehemalige Polizist Ed
Burns haben über ein Kalenderjahr hinweg, das Leben an einer Straßenecke in
West Baltimore beobachtet. In dem Teil der Stadt wohnen hauptsächlich
Afroamerikaner und der Drogenhandel ist der Hauptwirtschaftszweig. Also würden
wir hier aus der Ferne sagen: ein typisches amerikanisches Großstadt-Ghetto. Simon
und Burns begleiten einige der dort lebenden Personen, die natürlich alle auf
irgendeine Weise mit harten Drogen zu
tun haben, sei es als Konsumenten und/oder als Dealer. Das Hauptaugenmerk liegt
auf der Familie McCollough, die es früher schon fast aus dem Stadtteil
herausgeschafft hätte. Aber nachdem zuerst die Fran Boyd, die Mutter der
Familie an der Nadel hing, riss sie ihren Mann Gary mit in den Abgrund von
Drogen und Verbrechen, sodass sie später genau dort waren, wo die meisten Leute
des Viertels waren. Ganz unten und immer auf der Suche nach Geld für den
nächsten Schuss. Der 16-jährige Sohn, der beiden, die nicht mehr zusammen leben,
DeAndre ist am Beginn einer Karriere als Straßendealer. Er und seine
gleichaltrigen Freunde erliegen den Verlockungen des schnellen Geldes, das
durch den Drogenverkauf zu holen ist. Aber es gibt auch Personen wie Ella
Thompson, die versucht mitten im Viertel in einem Jugendzentrum, so etwas wie
eine Anlaufstelle für die Kinder und Jugendlichen zu sein und mit
unerschütterlichem Optimismus daran arbeitet, den Kindern andere Perspektiven zu
zeigen. Aber es werden auch die Junkies gezeigt, die von AIDS und anderen
Krankheiten, natürlich hervorgerufen durch jahrelangen Heroinkonsum, gezeichnet,
versuchen irgendwie den nächsten Kick zu bekommen.
Mit diesem auf den ersten Blick
alles andere als sympathisch erscheinenden Personal durchlebt der4 Leser also
das Jahr 1993. Den beiden Autoren gelingt es sehr schnell, dass man in den
handelnden Personen nicht mehr nur die drogensüchtigen Klein- und
Großkriminellen sieht, die sie zweifelsohne sind, sondern dass man die Menschen
und vor allem die Tragödien dahinter sieht. Alle versuchen irgendwann irgendwie
weg von der Droge zu kommen, aber die meisten sind so in der Hand ihrer Sucht,
dass sie so gut wie keine Chance haben. Trotzdem habe ich beim Lesen des Buches
immer wieder gehofft, dass es einer schafft, denn mir sind diese Figuren ans
Herz gewachsen. Und das bei Leuten, wegen denen ich wahrscheinlich vor Angst
die Straßenseite wechseln würde, wenn sie mir im realen Leben begegnen würden,
wenn ich ehrlich zu mir selbst bin. Und das ist die große Stärke der Autoren
und des Buches. Klar, sie haben im Laufe des Jahres die journalistische Distanz
verloren, wie sie im Nachwort selbst zugeben und natürlich ist eine zutiefst
subjektive Darstellung der Zustände. Aber nur so kann man es schaffen,
jemanden, der sich eigentlich nicht für solche Themen interessiert, an sie
heranzuführen, indem man es über die emotionale Schiene versucht. Und das
gelingt in diesem Buch.
Zwischen der Wiedergabe der
Geschehnisse lassen sich Simon und Burns auch immer wieder über die allgemeinen
Verhältnisse in den USA aus. Wie es zu solch einer „Ghettoisierung“ der
Großstädte kommen konnte und sie Beschreiben das in ihren Augen Versagen der
Politik im Umgang mit Drogenkrimininalität. Die Schlüsse, die sie daraus
ziehen, sind natürlich stark von den politischen Ansichten der beiden geprägt,
aber die Beschreibung der Zustände und die historischen Analysen sind schon
sehr präzise. Ob man den beiden in allen Punkten recht geben mag, sei jedem
selbst überlassen. Aber das gesellschaftspolitisch irgendetwas schief gelaufen ist,
ist meiner Meinung nach Fakt und ich persönlich bin eher auf der Linie der
Autoren.
Was bleibt von dem Buch? Kann man
in Deutschland des Jahres 2014 irgendetwas für sich herausziehen? Für mich ist
die Antwort ja. Denn dieses Buch ist ein Plädoyer für Menschlichkeit. Viel zu
oft urteilt man über andere Menschen, ohne auch nur den Hauch über die
Beweggründe ihrer Handlungen zu kennen. Mich hat das Buch gelehrt, nicht so
vorschnell in meinen Urteilen zu sein. Und das ist etwas, was ich nicht über
viele Bücher sagen kann, dass sie mich etwas gelehrt haben (Vielleicht lese ich
ja auch nur die falschen Bücher J
).
Aber nicht, dass die geneigten
Leser dieser Rezension jetzt denken, dass diese Reportage langweilig, ohne
Spannung und in einem drögen Stil geschrieben ist. Nichts von alledem. Es ist
auch kein trauriges Buch. An manchen Stellen musste ich herzhaft Lachen, an
anderen Stellen hatte ich Tränen in den Augen. Vor Trauer. Vor Wut. Aber auch
vor Rührung. THE CORNER ist ein nicht immer einfaches, aber ein sehr
lohnenswertes Buch.
Fazit: Die Autoren beschreiben
ein Jahr an einer Straßenecke in Baltimore, ein Jahr voller Drogen und Verbrechen,
voller Tragödien, aber auch voller Hoffnung. Eine grandiose Reportage, die
niemanden kalt lassen wird.
David Simon & Ed Burns: The Corner
Ein Bericht aus dem dunklen Herzen des amerikanischen Alptraums
Originaltitel: THE CORNER
Aus dem Amerikanischen von Gabriele Gockel, Barbara Steckhan, Thomas Wollermann, Kollektiv Druck-Reif
Heyne, Dezember 2013
800 Seiten
11,99 € (Klappenbroschur)
ISBN: 978-3453676367
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