Montag, 6. Januar 2014

David Simon & Ed Burns: The Corner


Eine Frage, die ich mir zu Beginn der Lektüre dieser 800-Seiten dicken Reportage gestellt habe, war, ob es heute überhaupt noch interessant ist, zu lesen, was zwei Journalisten 1997 in den USA veröffentlicht hatten. Zumal die Geschehnisse, die sie beschreiben, das Jahr 1993 betreffen. Um die Antwort vorwegzunehmen. Es war mehr als nur interessant dieses Buch zu lesen. In seinen besten Momenten hat es mich tief berührt und mich dazu gebracht, meine eigenen Standpunkte zu hinterfragen. Was will man mehr erwarten?

David Simon, der später basierend auf THE CORNER die Fernsehserie „The Wire“ schuf und der ehemalige Polizist Ed Burns haben über ein Kalenderjahr hinweg, das Leben an einer Straßenecke in West Baltimore beobachtet. In dem Teil der Stadt wohnen hauptsächlich Afroamerikaner und der Drogenhandel ist der Hauptwirtschaftszweig. Also würden wir hier aus der Ferne sagen: ein typisches amerikanisches Großstadt-Ghetto. Simon und Burns begleiten einige der dort lebenden Personen, die natürlich alle auf irgendeine Weise mit  harten Drogen zu tun haben, sei es als Konsumenten und/oder als Dealer. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Familie McCollough, die es früher schon fast aus dem Stadtteil herausgeschafft hätte. Aber nachdem zuerst die Fran Boyd, die Mutter der Familie an der Nadel hing, riss sie ihren Mann Gary mit in den Abgrund von Drogen und Verbrechen, sodass sie später genau dort waren, wo die meisten Leute des Viertels waren. Ganz unten und immer auf der Suche nach Geld für den nächsten Schuss. Der 16-jährige Sohn, der beiden, die nicht mehr zusammen leben, DeAndre ist am Beginn einer Karriere als Straßendealer. Er und seine gleichaltrigen Freunde erliegen den Verlockungen des schnellen Geldes, das durch den Drogenverkauf zu holen ist. Aber es gibt auch Personen wie Ella Thompson, die versucht mitten im Viertel in einem Jugendzentrum, so etwas wie eine Anlaufstelle für die Kinder und Jugendlichen zu sein und mit unerschütterlichem Optimismus daran arbeitet, den Kindern andere Perspektiven zu zeigen. Aber es werden auch die Junkies gezeigt, die von AIDS und anderen Krankheiten, natürlich hervorgerufen durch jahrelangen Heroinkonsum, gezeichnet, versuchen irgendwie den nächsten Kick zu bekommen.
Mit diesem auf den ersten Blick alles andere als sympathisch erscheinenden Personal durchlebt der4 Leser also das Jahr 1993. Den beiden Autoren gelingt es sehr schnell, dass man in den handelnden Personen nicht mehr nur die drogensüchtigen Klein- und Großkriminellen sieht, die sie zweifelsohne sind, sondern dass man die Menschen und vor allem die Tragödien dahinter sieht. Alle versuchen irgendwann irgendwie weg von der Droge zu kommen, aber die meisten sind so in der Hand ihrer Sucht, dass sie so gut wie keine Chance haben. Trotzdem habe ich beim Lesen des Buches immer wieder gehofft, dass es einer schafft, denn mir sind diese Figuren ans Herz gewachsen. Und das bei Leuten, wegen denen ich wahrscheinlich vor Angst die Straßenseite wechseln würde, wenn sie mir im realen Leben begegnen würden, wenn ich ehrlich zu mir selbst bin. Und das ist die große Stärke der Autoren und des Buches. Klar, sie haben im Laufe des Jahres die journalistische Distanz verloren, wie sie im Nachwort selbst zugeben und natürlich ist eine zutiefst subjektive Darstellung der Zustände. Aber nur so kann man es schaffen, jemanden, der sich eigentlich nicht für solche Themen interessiert, an sie heranzuführen, indem man es über die emotionale Schiene versucht. Und das gelingt in diesem Buch.

Zwischen der Wiedergabe der Geschehnisse lassen sich Simon und Burns auch immer wieder über die allgemeinen Verhältnisse in den USA aus. Wie es zu solch einer „Ghettoisierung“ der Großstädte kommen konnte und sie Beschreiben das in ihren Augen Versagen der Politik im Umgang mit Drogenkrimininalität. Die Schlüsse, die sie daraus ziehen, sind natürlich stark von den politischen Ansichten der beiden geprägt, aber die Beschreibung der Zustände und die historischen Analysen sind schon sehr präzise. Ob man den beiden in allen Punkten recht geben mag, sei jedem selbst überlassen. Aber das gesellschaftspolitisch irgendetwas schief gelaufen ist, ist meiner Meinung nach Fakt und ich persönlich bin eher auf der Linie der Autoren.

Was bleibt von dem Buch? Kann man in Deutschland des Jahres 2014 irgendetwas für sich herausziehen? Für mich ist die Antwort ja. Denn dieses Buch ist ein Plädoyer für Menschlichkeit. Viel zu oft urteilt man über andere Menschen, ohne auch nur den Hauch über die Beweggründe ihrer Handlungen zu kennen. Mich hat das Buch gelehrt, nicht so vorschnell in meinen Urteilen zu sein. Und das ist etwas, was ich nicht über viele Bücher sagen kann, dass sie mich etwas gelehrt haben (Vielleicht lese ich ja auch nur die falschen Bücher J ).

Aber nicht, dass die geneigten Leser dieser Rezension jetzt denken, dass diese Reportage langweilig, ohne Spannung und in einem drögen Stil geschrieben ist. Nichts von alledem. Es ist auch kein trauriges Buch. An manchen Stellen musste ich herzhaft Lachen, an anderen Stellen hatte ich Tränen in den Augen. Vor Trauer. Vor Wut. Aber auch vor Rührung. THE CORNER ist ein nicht immer einfaches, aber ein sehr lohnenswertes Buch.

Fazit: Die Autoren beschreiben ein Jahr an einer Straßenecke in Baltimore, ein Jahr voller Drogen und Verbrechen, voller Tragödien, aber auch voller Hoffnung. Eine grandiose Reportage, die niemanden kalt lassen wird.


David Simon & Ed Burns: The Corner
Ein Bericht aus dem dunklen Herzen des amerikanischen Alptraums
Originaltitel: THE CORNER
Aus dem Amerikanischen von Gabriele Gockel, Barbara Steckhan, Thomas Wollermann, Kollektiv Druck-Reif 
Heyne, Dezember 2013
800 Seiten
11,99 € (Klappenbroschur)
ISBN: 978-3453676367

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