Donnerstag, 7. November 2013

Stephen King: Doctor Sleep



„Im Grunde kennt die Literatur nur zwei große Themen: Die Liebe und den Tod. Der Rest ist Mumpitz.“ Ich hätte nicht gedacht, dass ich in einer Rezension einmal Marcel Reich-Ranicki zitiere. Aber hier passt es. Natürlich kann man sich darüber streiten, ob der Rest wirklich „Mumpitz“ ist (für mich ist er es nicht), aber so ganz falsch lag er mit dieser Sichtweise nicht, weil sich doch vieles in der Literatur um Liebe oder Tod dreht. Aber warum dieses Zitat zu Beginn der Besprechung von DOCTOR SLEEP)? Weil dieser Roman ein Hauptthema hat. In seinem letzten großen Roman DER ANSCHLAG hat sich King mehr mit dem anderen „großen Thema“, der Liebe, beschäftigt. Doch hier ist es, wie so oft in seinen Romanen (und wie so oft in der Horrorliteratur) der Tod.

DOCTOR SLEEP ist die Fortschreibung von Kings Roman SHINING aus dem Jahr 1977. SHINING ist wahrscheinlich nicht nur für mich einer der besten King-Romane, was ihn gleichzeitig auch zu einem der besten Horror-Romane überhaupt macht. King war sich natürlich bewusst, dass er ein Wagnis eingeht, wenn er die Geschichte des kleinen Jungen Danny Torrance weiter erzählt. Im Nachwort zum Buch schreibt er ganz richtig: „Ich denke gern, dass ich immer noch ganz gut schreiben kann, aber nichts kann der Erinnerung an etwas gerecht werden, bei dem wir uns ordentlich gegruselt haben, wirklich nichts, besonders wenn diese Erinnerung aus einer Zeit stammt, in der man jung und leicht zu beeindrucken war.“ Im ersten Teil des Satzes untertreibt er ein wenig, aber sonst trifft der Satz den Nagel auf dem Kopf. Das war auch der Grund, warum ich SHINING nicht noch einmal gelesen habe, um mich auf die Lektüre von DOCTOR SLEEP einzustimmen. Den Zauber, den Grusel und die Angst, die dieser Roman bei meinem 15- oder 16jährigem Ich erzeugt hat, kann er unmöglich heute auch noch entfalten. Also habe ich meine spärlichen Erinnerungen angezapft, die aber während der Lektüre dieses Buches immer wieder aufgefrischt wurden.
Das Buch hat drei Handlungsstränge, die langsam aber sicher zusammengeführt werden. Der Roman beginnt nicht lange nach den Geschehnissen im Overlook-Hotel. Danny Torrance hat immer noch die Gabe, Dinge zu sehen und zu können, die andere nicht sehen oder können – das Shining. Im Schnelldurchgang wird seine Kindheit und Jugend erzählt, bevor er als junger Erwachsener gezeigt wird, der genau so ein versoffenes Arschloch wie sein Vater geworden ist. Durch ein Schlüsselerlebnis, seinem Tiefpunkt, versucht er von der Flasche loszukommen, wandert ziellos durch die USA umher und landet schließlich (um die Jahrtausendwende) in dem Örtchen Frazier, New Hampshire, wo er einen Job und Freunde findet, die ihn dazu bringen sich den AA (Anonyme Alkoholiker) anzuschließen. Im zweiten Strang wird von einer Gruppe in Wohnmobilen umherziehender Leute erzählt, die sich selbst den „Wahren Knoten“ nennen. Diese Personen sind nicht wirklich menschlich. Sie sehen zwar aus wie Menschen, haben aber übernatürliche Gaben und eine erheblich größere Lebensspanne, die sie hauptsächlich ihrer „Nahrung“, dem sogenannten Steam“ verdanken. Dieser Steam ist nichts anderes, was der Leser auch als Shining kennt. Und auf welch brutale Weise die Mitglieder des Wahren Knotens an ihren Steam herankommen, zeigt schon früh im Roman auf, wer die Bösen sind.

Zu guter Letzt lernen wir noch das Mädchen Abra kennen. Sie wohnt in der Nähe des Ortes Frazier. Es scheint also kein Zufall zu sein, dass es Danny Torrance dorthin verschlagen hat. Schon Abras Geburt war nicht unbedingt normal. Als kleines Mädchen stellt sich dann heraus, dass sie ähnliche übersinnliche Begabungen hat, wie wir sie von Dan kennen, nur dass sie noch viel stärker ausgeprägt sind. Sie schafft es auf mentaler Ebene eine Verbindung zu Dan aufzunehmen. Aber auch der Wahre Knoten wird auf sie aufmerksam, durch die starke Ausprägung ihres „Shinings“ ist sie für sie die größte Nahrungsquelle, die sie je entdeckt haben. Nach ca. einem Drittel des Buches sind wir im Jahr 2013 angekommen und die bis dahin getrennt voneinander handelnden Personen, treffen aufeinander.

Wie schon zu Beginn erwähnt, handelt der Roman hauptsächlich vom Tod und vom Sterben. DOCTOR SLEEP ist der Name den Dan Torrance erhält, weil er bei seiner Tätigkeit in einem Hospiz, derjenige ist der gerufen wird, wenn ein Patient dabei ist, sein Leben auszuhauchen. Durch seine Fähigkeit und sein wissen, dass es mehr gibt, als das, was man sehen kann, nimmt er den Sterbenden die Angst. Aber auch die Mitglieder des Wahren Knotens werden mit dem Tod konfrontiert. Für sie kommt es umso überraschender, da sie sich fast für unsterblich halten. Aber auch in anderen Haupt und Nebenhandlungsschauplätzen wird immer wieder der Tod thematisiert. Der Roman gibt aber keine Antworten, wie man sich dazu positionieren soll, sondern regt eher dazu an, dieses gerne verdrängte Thema wieder näher an sein eigenes Bewusstsein heranzulassen.

Aber unabhängig von dieser Ebene ist der Roman auch eines: gute, spannende Unterhaltung auf erzählerisch höchstem Niveau. Schon nach wenigen Kapiteln hat es Stephen King geschafft mich in einen Sog hereinzuziehen, wie nur wenige Autoren es können. Man vergisst die Welt um sich herum und lebt für den Augenblick nur in dieser Geschichte. Dieses Erlebnis, das ich in der Jugend oft hatte, herbeizuführen, ist eigentlich nur noch King in der Lage. Er schafft es nicht mehr mit jedem seiner Bücher. Aber mit diesem hier ist es ihm wieder gelungen. Seine Romane sind zwar nicht mehr so unheimlich, wie es seine frühen Werke waren (und ich denke, dass liegt nicht nur an meinem fortgeschrittenen Alter, dass ich so empfinde), aber wie die Spannung aufgebaut wird, um am Ende in einem packenden Finale zu kulminieren. Das ist die Champions League des Erzählens. Wie nebenbei baut er persönliche Erfahrungen ein (AA), bringt kleine Schreckmomente und lässt es in geringen Dosen auch ordentlich splattern.

Und wie seine Figuren bis in die kleinste Randfigur hinein lebendig wirken, versetzt mich bei jedem neuen Buch immer wieder in ehrfurchtvolles Staunen. Dieser Roman hat es geschafft mich zu beeindrucken, obwohl ich nicht mehr „jung und leicht zu beeindrucken“ bin. DOCTOR SLEEP ist mehr als ein guter Horror-Thriller, es ist in meinen Augen große Literatur und ich wage die (für uns wohl nicht verifizierbare) These aufzustellen, dass dieses Buch, wie viele andere von Stephen Kings  Büchern, noch in 200 Jahren gelesen werden.

Fazit: Stephen King zeigt bei DOCTOR SLEEP seine einzigartige Fähigkeit einen spannenden Thriller zu schreiben und dabei nebenbei existentielle Fragen anzugehen. Das alles geschieht auch noch in einer erzählerischen Qualität, dass ich von der ersten bis zur letzten Seite des Romans gefesselt war und am Ende absichtlich langsamer gelesen habe, weil ich nicht wollte, dass dieser Roman aufhört.



Stephen King: Doctor Sleep
Roman
Heyne, Oktober 2013
Originaltitel: Doctor Sleep (2013)
Aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt
704 Seiten
22,99 € (Gebundene Ausgabe)
ISBN: 978-3453268555
(auch als E-Book erhältlich: 16,95 €)

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