„Im Grunde kennt die Literatur
nur zwei große Themen: Die Liebe und den Tod. Der Rest ist Mumpitz.“ Ich hätte
nicht gedacht, dass ich in einer Rezension einmal Marcel Reich-Ranicki zitiere.
Aber hier passt es. Natürlich kann man sich darüber streiten, ob der Rest
wirklich „Mumpitz“ ist (für mich ist er es nicht), aber so ganz falsch lag er
mit dieser Sichtweise nicht, weil sich doch vieles in der Literatur um Liebe
oder Tod dreht. Aber warum dieses Zitat zu Beginn der Besprechung von DOCTOR
SLEEP)? Weil dieser Roman ein Hauptthema hat. In seinem letzten großen Roman DER
ANSCHLAG hat sich King mehr mit dem anderen „großen Thema“, der Liebe, beschäftigt. Doch hier ist es, wie so oft in seinen Romanen (und wie so oft in
der Horrorliteratur) der Tod.
DOCTOR SLEEP ist die
Fortschreibung von Kings Roman SHINING aus dem Jahr 1977. SHINING ist
wahrscheinlich nicht nur für mich einer der besten King-Romane, was ihn gleichzeitig
auch zu einem der besten Horror-Romane überhaupt macht. King war sich natürlich
bewusst, dass er ein Wagnis eingeht, wenn er die Geschichte des kleinen Jungen
Danny Torrance weiter erzählt. Im Nachwort zum Buch schreibt er ganz richtig: „Ich
denke gern, dass ich immer noch ganz gut schreiben kann, aber nichts kann der
Erinnerung an etwas gerecht werden, bei dem wir uns ordentlich gegruselt haben,
wirklich nichts, besonders wenn diese Erinnerung aus einer Zeit stammt, in der
man jung und leicht zu beeindrucken war.“ Im ersten Teil des Satzes untertreibt
er ein wenig, aber sonst trifft der Satz den Nagel auf dem Kopf. Das war auch
der Grund, warum ich SHINING nicht noch einmal gelesen habe, um mich auf die
Lektüre von DOCTOR SLEEP einzustimmen. Den Zauber, den Grusel und die Angst,
die dieser Roman bei meinem 15- oder 16jährigem Ich erzeugt hat, kann er
unmöglich heute auch noch entfalten. Also habe ich meine spärlichen
Erinnerungen angezapft, die aber während der Lektüre dieses Buches immer wieder
aufgefrischt wurden.
Das Buch hat drei
Handlungsstränge, die langsam aber sicher zusammengeführt werden. Der Roman
beginnt nicht lange nach den Geschehnissen im Overlook-Hotel. Danny Torrance
hat immer noch die Gabe, Dinge zu sehen und zu können, die andere nicht sehen
oder können – das Shining. Im Schnelldurchgang wird seine Kindheit und Jugend
erzählt, bevor er als junger Erwachsener gezeigt wird, der genau so ein
versoffenes Arschloch wie sein Vater geworden ist. Durch ein
Schlüsselerlebnis, seinem Tiefpunkt, versucht er von der Flasche loszukommen,
wandert ziellos durch die USA umher und landet schließlich (um die
Jahrtausendwende) in dem Örtchen Frazier, New Hampshire, wo er einen Job und
Freunde findet, die ihn dazu bringen sich den AA (Anonyme Alkoholiker)
anzuschließen. Im zweiten Strang wird von einer Gruppe in Wohnmobilen
umherziehender Leute erzählt, die sich selbst den „Wahren Knoten“ nennen. Diese
Personen sind nicht wirklich menschlich. Sie sehen zwar aus wie Menschen, haben
aber übernatürliche Gaben und eine erheblich größere Lebensspanne, die sie
hauptsächlich ihrer „Nahrung“, dem sogenannten Steam“ verdanken. Dieser Steam
ist nichts anderes, was der Leser auch als Shining kennt. Und auf welch brutale Weise die
Mitglieder des Wahren Knotens an ihren Steam herankommen, zeigt schon früh im
Roman auf, wer die Bösen sind.
Zu guter Letzt lernen wir noch
das Mädchen Abra kennen. Sie wohnt in der Nähe des Ortes Frazier. Es scheint
also kein Zufall zu sein, dass es Danny Torrance dorthin verschlagen hat. Schon
Abras Geburt war nicht unbedingt normal. Als kleines Mädchen stellt sich dann
heraus, dass sie ähnliche übersinnliche Begabungen hat, wie wir sie von Dan
kennen, nur dass sie noch viel stärker ausgeprägt sind. Sie schafft es auf
mentaler Ebene eine Verbindung zu Dan aufzunehmen. Aber auch der Wahre Knoten
wird auf sie aufmerksam, durch die starke Ausprägung ihres „Shinings“ ist sie
für sie die größte Nahrungsquelle, die sie je entdeckt haben. Nach ca. einem
Drittel des Buches sind wir im Jahr 2013 angekommen und die bis dahin getrennt
voneinander handelnden Personen, treffen aufeinander.
Wie schon zu Beginn erwähnt,
handelt der Roman hauptsächlich vom Tod und vom Sterben. DOCTOR SLEEP ist der
Name den Dan Torrance erhält, weil er bei seiner Tätigkeit in einem Hospiz,
derjenige ist der gerufen wird, wenn ein Patient dabei ist, sein Leben
auszuhauchen. Durch seine Fähigkeit und sein wissen, dass es mehr gibt, als
das, was man sehen kann, nimmt er den Sterbenden die Angst. Aber auch die
Mitglieder des Wahren Knotens werden mit dem Tod konfrontiert. Für sie kommt es
umso überraschender, da sie sich fast für unsterblich halten. Aber auch in
anderen Haupt und Nebenhandlungsschauplätzen wird immer wieder der Tod
thematisiert. Der Roman gibt aber keine Antworten, wie man sich dazu
positionieren soll, sondern regt eher dazu an, dieses gerne verdrängte Thema
wieder näher an sein eigenes Bewusstsein heranzulassen.
Aber unabhängig von dieser Ebene
ist der Roman auch eines: gute, spannende Unterhaltung auf erzählerisch
höchstem Niveau. Schon nach wenigen Kapiteln hat es Stephen King geschafft mich
in einen Sog hereinzuziehen, wie nur wenige Autoren es können. Man vergisst die
Welt um sich herum und lebt für den Augenblick nur in dieser Geschichte. Dieses
Erlebnis, das ich in der Jugend oft hatte, herbeizuführen, ist eigentlich nur
noch King in der Lage. Er schafft es nicht mehr mit jedem seiner Bücher. Aber
mit diesem hier ist es ihm wieder gelungen. Seine Romane sind zwar nicht mehr
so unheimlich, wie es seine frühen Werke waren (und ich denke, dass liegt nicht
nur an meinem fortgeschrittenen Alter, dass ich so empfinde), aber wie die
Spannung aufgebaut wird, um am Ende in einem packenden Finale zu kulminieren.
Das ist die Champions League des Erzählens. Wie nebenbei baut er persönliche Erfahrungen
ein (AA), bringt kleine Schreckmomente und lässt es in geringen Dosen auch
ordentlich splattern.
Und wie seine Figuren bis in die
kleinste Randfigur hinein lebendig wirken, versetzt mich bei jedem neuen Buch
immer wieder in ehrfurchtvolles Staunen. Dieser Roman hat es geschafft mich zu
beeindrucken, obwohl ich nicht mehr „jung und leicht zu beeindrucken“ bin. DOCTOR
SLEEP ist mehr als ein guter Horror-Thriller, es ist in meinen Augen große
Literatur und ich wage die (für uns wohl nicht verifizierbare) These
aufzustellen, dass dieses Buch, wie viele andere von Stephen Kings Büchern, noch in 200 Jahren gelesen werden.
Fazit: Stephen King zeigt bei DOCTOR
SLEEP seine einzigartige Fähigkeit einen spannenden Thriller zu schreiben und
dabei nebenbei existentielle Fragen anzugehen. Das alles geschieht auch noch in
einer erzählerischen Qualität, dass ich von der ersten bis zur letzten Seite
des Romans gefesselt war und am Ende absichtlich langsamer gelesen habe, weil
ich nicht wollte, dass dieser Roman aufhört.
Stephen King: Doctor Sleep
Roman
Heyne, Oktober 2013
Originaltitel: Doctor Sleep (2013)
Aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt
704 Seiten
22,99 € (Gebundene Ausgabe)
ISBN: 978-3453268555(auch als E-Book erhältlich: 16,95 €)
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