Bob
Lee Swagger, Vietnam-Veteran und Scharfschütze, ist der Held von Stephen
Hunters Romanreihe, dessen zweiter Band Black Light unter dem
Titel Nachtsicht nun zum ersten Mal in deutscher Übersetzung
vorliegt. Aber dieser 1996 in den USA erschienene Roman ist mehr als der
zweiter Band der Bob-Lee-Swagger-Reihe: In der Danksagung zu Nachtsicht schreibt
Hunter, dass es der Abschluss einer Trilogie sei, zu der er neben dem ersten
Band der Swagger-Reihe Point of Impact (deutsch: Shooter,
Festa 2014), auch den Roman Dirty White Boys zählt. Hier muss
ich übrigens auf einen kleinen Fehler hinweisen: Als Anmerkung steht in der
Danksagung, dass Dirty White Boys noch nicht auf Deutsch
erschienen ist. Das ist so nicht ganz richtig. Der Roman erschien 1997 unter dem
Titel Die Gejagten schon einmal bei List. Allerdings hege ich
die Vermutung, dass bei dieser Übersetzung, wie auch schon bei der Deutschen
Erstausgabe von Point of Impact (Im Fadenkreuz der Angst,
List 1994), Kürzungen vorgenommen worden sind. Also muss man dem Festa
Verlag dankbar sein, dass er nach Shooter in seiner Crime-Reihe nun den zweiten
Bob-Lee-Swagger-Roman in ungekürzter Übersetzung herausbringt und hoffen, dass auch die weiteren Swagger-Romane folgen werden.
Zwei
Jahre nach Black Light erschien 1998 nämlich der dritte Bob-Lee-Swagger-Band
und nach der erfolgreichen Verfilmung von Point of Impact (Shooter,
2006, Regie: Antoine Fuqua) mit Mark Wahlberg reaktivierte Hunter seine erfolgreiche Figur und
liefert seitdem in schöner Regelmäßigkeit neue Romane mit dem Scharfschützen
(und sogar einen mit seinem unehelichen Sohn) ab. Aber auch in den Jahren zwischen
dem dritten und vierten Roman der Reihe ließ die Familie Swagger den Autor
nicht los. Er schrieb drei Bücher, in denen Bob Lees Vater Earl die Hauptfigur
war. Und um ebendiesen Vater geht es auch zum großen Teil in Nachtsicht, denn
nicht umsonst ist der Untertitel des Romans "Er jagt die Mörder seines
Vaters".
Bob
Lee Swagger hat vier Jahre nach dem in Shooter geschilderten
Geschehen mittlerweile eine kleine Familie und sich zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter auf eine Farm in Arizona
zurückgezogen. Er erhält dort Besuch von dem jungen Journalisten Russ Pewtie,
der ihn um Hilfe bei einer Recherche bittet. Pewtie hat vor ein Buch schreiben,
in dem er zwei Sachen miteinander in Verbindung bringen möchte. Nämlich den Tod
des Polizisten Earl Swaggers, der am 23. Juli 1955 vom Ex-Sträfling Jimmy
Pye erschossen worden ist, und die Jagd von Pewties Vater, einem Polizisten,
auf den entflohenen Sträfling Lamar Pye, Jimmy Pyes Sohn, die Stephen Hunter in dem Roman Dirty
White Boys (Die Gejagten) erzählt. Nach anfänglicher Ablehnung
macht Swagger sich doch mit Russ Pewtie auf den Weg nach Arkansas in seine
Heimatstadt. Er hat nämlich Ungereimtheiten in den Hinterlassenschaften seines
Vaters entdeckt und will vor Ort Nachforschungen deswegen anstellen. Im ersten Drittel von Nachtsicht changiert
das Geschehen häufig zwischen der Gegenwart (Mitte der 1990er Jahre) und dem
23. Juli 1955. In Rückblenden wird sozusagen das verifiziert, was Bob Lee
Swagger und Pewtie herausgefunden haben. Als Bindeglied zwischen diesen beiden
Zeitebenen fungiert die Figur Sam Vincent, der schon als Anwalt Bob Lee
Swaggers aus Shooter bekannt ist. Er war der ermittelnde
Staatsanwalt bei Earl Swaggers letztem Fall, dem Mord an dem schwarzen Mädchen
Shirelle Parker, und rollt nun diesen Fall als alter, mit beginnender Demenz
kämpfender Mann wieder auf, da die Vermutung naheliegt, dass Earls Tod etwas
mit dem Mord an Shirelle Parker zu tun hat. Außerdem ist da noch Red Bama.
Dieser versucht die Nachforschungen Swaggers, Pewties und Vincents zu
sabotieren. Also merkt der Leser schnell, dass an der offiziellen Version des
Todes von Earl Swaggers einiges nicht stimmt und die Vermutungen der drei nicht allzu weit hergeholt sind. Die Frage ist jetzt, was die eigentlichen Umstände von
seinem Tod sind und was genau Bama zu vertuschen versucht.
Natürlich kommt die
Action in Nachtsicht
nicht zu kurz, doch so actionreich wie der Vorgänger Shooter ist der Roman nicht. Aber das ist auch gar nicht nötig. Das
Hauptaugenmerk bei diesem Actionthriller liegt mehr auf dem zweiten Teil
des Begriffs. Nachtsicht ist spannend
und bezieht seine Spannung daraus, dass sowohl dem Leser als auch den
Protagonisten erst nach und nach alle Zusammenhänge klar werden. Dazu hat
Hunter einige Storytwists eingebaut hat, die man so auf den ersten Blick nicht
erwarten konnte. Lediglich der finale Twist wirkt etwas überzogen. Aber
das macht nichts. Die Spannung wird auf den kompletten 600 Seiten gehalten –
bis auf wenige Ausnahmen, auf die ich gleich noch zurückkommen werde – und die
Actionsequenzen legen ein rasantes Tempo an den Start. Dazu kommt noch, dass
sich Hunter sehr gut in die Taktiken eines Scharfschützen hineinrecherchiert
hat und man Bob Lee Swaggers Handlungsweisen für bare Münze nehmen kann. Es wirkt zwar alles manchmal etwas übertrieben aber wenn man im Actiongenre unterwegs ist, weiß
man von vorneherein, dass es der Held auch mal mit zehn Gegnern gleichzeitig
aufnehmen kann.
Überhaupt
die Figurenzeichnung: Bob Lee Swagger ist nicht mehr der traumatisierte
Einzelkämpfer, er hat jetzt Familie und versucht diesem Rechnung zu tragen.
Trotzdem kann er sich in Extremsituationen auf seine Kämpfergene
verlassen und ist in der Lage sich einen Dreck um etwaige moralische Vorgaben
zu scheren. Er ist zwar nicht mehr so sehr der Anti-Held wie noch in Shooter, aber eine positive
Identifikationsfigur für den Leser ist er immer noch nicht. Red Bama ist der
Prototyp des skrupellosen reichen Südstaatlers, der bereit ist, für den Erhalt
seines Status Quo über Leichen zu gehen. Die sympatischeren Charaktere des
Buches sind zum einen Sam Vincent, der alte Anwalt, dem seine
Gedächtnisaussetzer zu schaffen machen, der aber in seinen lichten Momenten
immer wieder alten Scharfsinn hervorblitzen lässt, und zum anderen Russ Pewtie,
der junge Journalist, der sich seine Naivität bewahrt und auch fassungslos vor den
Taten steht, die die hartgesottenen Kerle um ihn
herum nur noch kalt lassen.
In
Pewtie scheint wohl auch ein bisschen der Autor selbst durch. Wenn er Pewtie
davon berichten lässt, wie es war, als er den Filmkritiker seiner Zeitung vertreten
musste und nervös Clint Eastwood und Kevin Costner interviewen musste, dann
kann man durchaus Parallelen zu Hunter ziehen, der sein Geld hauptberuflich als
Filmkritiker der Baltimore Sun und später der Washington Post verdiente und als
einer der bedeutendsten amerikanischen Vertreter der Filmkritik überhaupt
angesehen wird, was nicht zuletzt die Auszeichnung mit dem Pullitzer Preis für
Kritik im Jahre 2002 belegt. Hunter legt Pewtie auch Sätze in den Mund, die
sich manche Autoren mal zu Herzen nehmen sollten: „Ich habe nie behauptet
schlau zu sein … Ich habe gesagt, dass ich Schriftsteller werden möchte. Das
ist nicht dasselbe.“ (Stephen Hunter: Nachtschicht,
S.239)
Stephen
Hunter ist außerdem Sportschütze, hat also eine gewisse Affinität zu Schusswaffen.
Die Art und Weise wie im Süden der USA mit Waffen umgegangen wird, ist
natürlich gerade für den im Krimi- und Thrillerbereich geübten Leser nicht neu.
Aber auf denen mitteleuropäisch geprägten Rezensenten, der ich nun mal bin,
wirkt es immer wieder befremdlich, wie selbstverständlich Gebrauch von
Schusswaffen gemacht wird. Es ist zwar nicht so, dass Hunter den Umgang mit
Waffen verherrlicht - zwischendrin klingen auch mal überaus vernünftige, wenn
nicht gar kritische Töne durch -, aber die Faszination, die Waffen auf ihn
ausüben, kann man deutlich erkennen. Und das ist in meinen Augen ein kleiner
Nachteil des Buches. Es kann gut sein, dass es manchem Leser gefällt, aber wenn
ich mich durch mehrseitige Beschreibungen eines Gewehrs arbeiten muss,
schaltet mein Gehirn spätestens nach einer halben Seite ab und ich beginne erst wieder mit
konzentriertem Lesen, wenn es mit der Handlung weitergeht. Das kam bei
Nachtsicht zum Glück nicht allzu oft vor, aber doch so oft, dass es auffiel.
Ein
weiterer positiver Aspekt war für mich die Zeit, in der der Roman spielt. 20
Jahre sind eine gar nicht so lange Zeitspanne und man wundert sich, wie sehr sich das
Leben allgemein verändert hat, wenn man einen Roman von 1996 liest. Zu
Recherchezwecken wurde damals eine absolute Neuheit benutzt: eine Telefonbuch-CD-ROM.
Eine heute schon weit überholte Sache ist vor 20 Jahren als revolutionär
angesehen worden. Das zeigt dem heutigen Leser, wie schnelllebig die Zeit ist. Man kann sich nach 2001 auch gar nicht vorstellen, dass „das Mantra der nationalen
Sicherheit“ in den USA der 90er Jahre „längst nicht mehr so viel Macht ausübte“
oder man nicht „sicher sein konnte, ob es überhaupt funktionierte.“
(Stephen Hunter: Nachtschicht, S. 440). Da darf man fast froh sein, dass der
Roman erst jetzt seinen Weg zu uns deutschen Lesern fand, denn bekommt so bekommt man eine
Gratis-Geschichtslektion nebenbei vermittelt, die gar nicht vom Autor beabsichtigt
gewesen sein mag.
Und
natürlich darf man auch sonst froh über die (soweit ich es
beurteilen kann) gelungene Übersetzung sein. Schön, dass diese durchaus harten
und streckenweise auch brutalen Romane endlich in deutscher Sprache zugänglich
sind. Nachtsicht mag jetzt keine
literarische Offenbarung sein, aber es ist genau das, was es sein möchte: Gute
Action-Unterhaltung, zwar mit den paar von mir erwähnten Längen, die aber auf
den insgesamt gut 600 Seiten kaum auffallen. Bleibt zu hoffen, dass der Festa
Verlag auch noch die weiteren Bob-Lee-Swagger-Romane veröffentlicht (neun sind
es mittlerweile an der Zahl). Aber vor allem würde ich mir wünschen, dass es
eine Neuübersetzung von Dirty White Boys
gibt. Nachtsicht lässt sich wie Shooter zwar sehr gut als eigenständiges
Werk lesen, aber mich interessiert schon, was in der Zwischenzeit mit Russ
Pewties Vater und Lamar Pye genau geschehen ist, zumal ich in einigen
englischsprachigen Rezensionen gelesen habe, dass Dirty White Boys der beste Roman der von Hunter selbst so
betitelten Trilogie sein soll. (10/15)
Stephen Hunter: Nachtsicht
Titel der amerikanischen Originalausgabe: BLACK LIGHT (1996)
Aus dem Amerikanischen von Patrick Baumann
Lektorat: Alexander Rösch
Titelbild: Clinton Lofthouse
Festa Verlag, November 2014
601 Seiten
13,95 € (Taschenbuch)
ISBN: 9783865523372
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