Donnerstag, 15. Januar 2015

Christian Sidjani (Hrsg.): Horror Legionen II


Die in meiner Besprechung (hier) des ersten von Doc Nachtstrom im Sommer 2013 herausgegebenen  Bandes der Horror Legionen schon angekündigte Fortsetzung erschien  Ende des Jahres 2014 endlich im Amrûn Verlag . Was hat sich nun im zweiten Band geändert? Zunächst einmal hat der Herausgeber gewechselt. Der Hamburger Autor Christian Sidjani zeichnete sich diesmal für die Auswahl der Geschichten und  das Vorwort der Anthologie verantwortlich. Und noch etwas sticht sofort ins Auge: Das von Mark Freier gestaltete Cover ist um Längen besser als das Cover der ersten Horror Legionen. Aber das Konzept ist das Gleiche geblieben. Es wird versucht, einen Querschnitt der deutschsprachigen Horrorliteratur anhand von Kurzgeschichten zu zeigen.

Insgesamt 19 Autoren folgten Sidjanis Aufruf und lieferten 18 Kurzgeschichten für den Almanach deutscher Horror-und-Mystery-Autoren - so der Untertitel - ab. Da kein Thema vorgegeben war, ist es nur logisch, dass ein breites Spektrum abgedeckt wurde. Da bleibt es nicht aus, dass nicht jedem Leser, jede Erzählung gefallen wird, wie der Herausgeber auch in seinem Vorwort feststellt: „Es mag sein, dass nicht jede Geschichte, dir auf der Reise gefällt, aber du wirst feststellen, wie facettenreich Horror sein kann.“ Und damit hat er voll und ganz Recht.  

Auch die Frage mit der Sidjani sein Vorwort eröffnet ist klug gewählt. Er fragt nicht: "Was ist Horror?", sondern er fragt: „Was ist Horror für dich?“. Denn kein anderes Genre hat so individuell festgelegte Grenzen wie Horror. Die Frage, wann hört der Thriller auf und wann fängt der Horrorroman an, kann nur jeder für sich selbst beantworten. Und die Abgrenzung zum Thriller ist nicht die einzig schwierige. Ist z.B. Alien eher ein Science-Fiction- oder ein Horrorfilm? Ich kann das nicht eindeutig beantworten. Und was für den einen der größte Alptraum überhaupt ist, ringt der anderen vielleicht gerade mal ein müdes Lächeln ab.  Horror oder vielleicht Furcht allgemein, denn das ist das Gefühl, was diese Art Literatur erzeugen will,  ist ein sehr persönliches Gefühl. Wenn man nun mit dieser Prämisse an dieses Buch herangeht, wird man nicht enttäuscht. Einige der besten deutschen Genrevertreter zeigen, warum sie zurecht für diese Anthologie ausgewählt worden sind. Von anderen hat man durchaus schon Besseres gelesen. Aber vielleicht ist das ja auch nur mein subjektives Empfinden. Gehen wir also in medias res  und betrachten die Erzählungen im Einzelnen:

1) Tobias Bachmann & Markus K. Korb: Das Zimmer in Venedig
Es beginnt mit einer großartigen klassischen Schauergeschichte. Der Kunstgriff überhaupt ist für mich, die Geschichte in Venedig spielen zu lassen. So spielt die Geschichte im hier und jetzt, aber das Flair dieser einmaligen in der Zeit scheinbar stehen gebliebenen Stadt bildet die Kulisse dafür, dass diese klassische Geschichte wunderbar funktioniert, ohne über die Maßen antiquiert zu wirken. Für mich eine der gelungensten Übertragungen einer klassischen Gruselgeschichte in die Gegenwart, die ich in letzter Zeit gelesen habe. Die Atmosphäre, die die Stadt Venedig ausstrahlt, ist sehr gut spürbar. Ich wollte zunächst nur einen kurzen Blick in die 40-seitige Geschichte hineinwerfen, wurde aber so in deren Sog gerissen, dass ich sie in einem Rutsch lesen musste. Denn neben der Atmosphäre sind auch sonst alle Zutaten vorhanden, die eine solche Geschichte haben muss. Ein exzellenter Start in die Anthologie. (13/15)

2) Daniela Herbst: Noras Baby
Ich musste bei dieser im White-Trash-Milieu spielenden etwas anderen Rape'n'Revenge-Story immer ein bisschen an die Ludolfs denken. Es war die zweite Geschichte, die ich von Daniela Herbst gelesen habe und nachdem ich ihre Zombie-Geschichte aus den ersten Horror-Legionen für eine der schwächsten überhaupt des Bandes eingestuft habe, gelingt es ihr mit dieser auf einem Schrottpaltz spielenden viel besser, mich zu unterhalten. Wenn man bei dem angeschlagenen Thema von Unterhaltung überhaupt sprechen kann. Zugegeben, die Story wirkt etwas abgedroschen, aber nichtsdestotrotz hat sie mir gut gefallen. (10/15)

3) Michael Schmidt: Max
Die erste Geschichte der Anthologie, die in der 1. Person erzählt wird, hat auch eine im Genre nicht unbekannte Handlung vorzuweisen. Der Ich-Erzähler Max und seine Freundin werden beim Baden im Meer von irgendetwas gebissen und verwandeln sich mehr und mehr in monströse Wesen. Leider finde ich die gewählte Sprache des Erzählers zu gekünstelt. Ich nehme Max nicht ab, dass er so erzählen würde. Aus einer anderen Perspektive heraus geschrieben, hätte die Story durchaus etwas gehabt. So funktioniert die Geschichte für mich nicht. (5/15)

4) Mala Wintar: Das Lächeln meiner Schwester
Die erste Geschichte, die ich von der Autorin gelesen habe, besticht durch sehr genaue und sprachmächtige Beschreibungen – gerade eine in der Kurzgeschichte enthaltene Traumsequenz hat mich tief beeindruckt. Leider ist die Story aber sonst nicht besonders originell und arg vorhersehbar. Dazu versaut der Erklärbar-Epilog einiges von der vorher erzeugten Stimmung. Trotzdem muss man die Autorin auf dem Zettel behalten. (8/15)

5) Vincent Voss: K9K
Auf nur 12 Seiten erzählt Vincent Voss eine Geschichte aus vier verschiedenen Perspektiven, die aufeinander aufbauen. Der Staffelstab wird quasi von der einen zur anderen Perspektive weitergegeben (und teilweise auch zurück). Überraschenderweise funktioniert das nicht nur, sondern es funktioniert sogar fantastisch. Dazu werden die in der Geschichte gezeigten Hundehasser (-quäler) und Hundefreunde so extrem überzeichnet, dass den Vertretern der jeweiligen Gruppen beim Blick in den vorgehaltenen Spiegel übel werden muss. Ganz großes Tennis. Ein selbst für das an sich schon hohe Niveau der Kurzgeschichten des Autors überragende Geschichte. (15/15)

6) Fred Ink: Omega Tau 3
Der nächste Volltreffer ist Fred Inks Quasi-Neuerzählung von Lovecrafts Der Tempel als SF-Horror-Erzählung, die 2081 nach einer nuklearen Katastrophe und einem dadurch veränderten Machtgefüge spielt. Die Geschichte spielt nicht wie in Lovecrafts Erzählung in einem U-Boot, sondern auf einem Exoplaneten, wo ein Trupp Arbeiter fossile Brennstoffe für die Erde abbauen soll. Und  die Nachrichten werden nicht  wie beim Tempel in einer Flaschenpost gefunden, sondern als Voice-Mails zwischen den Planeten hin- und hergesendet. Eine tolle Version einer bekannten Geschichte mit Spitzen gegen totalitäre Systeme, deren Ende ich besonders überzeugend fand. (14/15)

7) Tony Lucifer: Das Ding aus einer ganz anderen Welt
Ein Paar kommt nach Hause, will vögeln und während sie im Bett auf ihren duschenden Mann wartet, wird sie von einem unter dem Bett lauernden Monster massakriert. Was sich ein wenig nach einem Kinderalptraum anhört (jedenfalls wenn man den Sex weg lässt), wird extrem brutal und explizit beschrieben. Aber im Grunde passiert in dieser Geschichte nichts. Am Ende gibt es zwar noch einen desaströsen Blick in die Zukunft, aber die Figuren und das, was ihnen geschieht, erreichen mich nicht und lassen mich kalt. Eine überflüssige , nur auf Effekt ausgelegte Kurzgeschichte. (4/15)

8) Rona Walter: Highwayman
Eine sprachlich und thematisch typische Rona-Walter-Geschichte. Sie spielt in Schottland und ein Feenwesen eine gewichtige Rolle. Ich mag ihre Geschichten, die in der Gegenwart spielen lieber. Diese hier spielt in der Vergangenheit und hat mich nicht vom Hocker gerissen. Durchschnitt. (8/15)

9) Oliver Susami: Tyrannosaurus Rex
Ich glaube, dass diese Erzählung das Erste überhaupt ist, was ich von Susami gelesen habe. Um seine Romane habe ich bislang einen Bogen gemacht, weil sie mich thematisch nicht angesprochen haben. Wahrscheinlich muss ich das mal ändern. Denn diese Geschichte über einen kleinen Junge, der  in der Schule ein Außenseiter ist, und dann einen dämonischen Freund bekommt, der meint, ihm auch ohne dessen Erlaubnis,helfen zu müssen ist zwar relativ unspektakulär, aber trotzdem gut. (11/15)

10) C. Auguste: Der Soldat und sein Henker
Der Leipziger Autor mit dem an Poe angelehnten Pseudonym (wer mag das wohl sein?) liefert mit seiner Geschichte eine Dürrenmatt-Hommage ab. Der Titel lehnt sich an den Roman Der Richter und sein Henker an und das formale Gerüst ist bei der Geschichte Der Auftrag übernommen.  Eines vorweg: Ich mag Literatur, die sich von vorneherein ein formales Korsett gibt (Tipp für Leute, die so etwas auch mögen: Die Gedichte Oskar Pastiors oder anderer Vertreter der Gruppe OULIPO). Aber zurück zur vorliegenden Kurzgeschichte. Auguste erzählt seine Geschichte in zwölf  Sätzen (bei Dürrenmatt waren es noch 24) -  die Sätze sind dementsprechend lang (natürlich mit vielen Einschüben, Kommas, etc.). Das alles gelingt ihm sehr gut und ich habe die Geschichte einer Frau, die einen Mann mit einem bestimmten Ziel beobachtet und verfolgt, mit großem Vergnügen gelesen. Trotzdem muss ich zwei Abstriche machen: Bei Texten, die so auf die Einhaltung des formalen Gerüsts setzen, fällt jeder auch noch so kleine Fehler doppelt ins Gewicht und zwei, drei sind in diesem Text vorhanden. Das ist ärgerlich. Trotzdem bleibt es eine großartige Geschichte (13/15).
Der zweite Abstrich: Die Erzählung ist alles andere als eine Horrorgeschichte, daher hat sie eigentlich in dieser Anthologie nichts verloren. Daher im Gesamtkontext: (9/15)

11) Xander Morus: Projekt März
Eine Studentin versucht, etwas über ein vergangenes (para-)psychologisches Experiment herauszufinden, und stößt zunächst auf eine Mauer des Schweigens, findet aber am Ende doch die Wahrheit heraus. Auch hier wird eine nicht unbedingt mega-originelle Geschichte routiniert erzählt. Leider war sie mir etwas zu vorhersehbar und das Ende hat mich etwas enttäuscht. (8/15)

12) André Wegmann: Albino Devil
Zwei Pärchen bei einem Zelturlaub in Rumänien: Am Lagerfeuer erzählt einer der Männer eine gruselige Legende aus der Gegend. Was anschließend passiert, dürfte jedem Horror-Kenner klar sein. Trotz einer recht witzigen Wendung nicht unbedingt die Neuerfindung des Rads. Aber altbewährte, gute und gruselige Unterhaltung (11/15)

13) Melisa Schwermer: Das glitzernde Ding
Ein Junge sieht auf dem Nachhauseweg aus dem Zug heraus etwas glitzern und sucht das Ding trotz Stubenarrests am Nachmittag. Das Ganze muss natürlich böse enden. Auch hier wird ein nicht unbedingt unbekanntes Motiv ohne besonders originelle Zutaten, aber mit ein, zwei kleineren Überraschungsmomenten gut und unterhaltsam erzählt. (10/15)

14) Arthur Gordon Wolf: Quids
Die längste Geschichte der Anthologie beschreibt den Beginn eines Endzeitszenarios. Die Erzählung beginnt vor der eigentlichen Handlung fulminant. Danach wird die Handlung langsam aber sicher mehr und mehr in Richtung Höhepunkt aufgebaut. Das ist – wie bei Wolf üblich – auf formal und sprachlich hohem Niveau. Trotzdem hat mich die Erzählung gelangweilt. Vielleicht liegt das Augenmerk zu sehr auf der Konstruktion des Spannungsbogens. Der Protagonist und Ich-Erzähler blieb in meinen Augen merkwürdig blass, was mir den Zugang zur Geschichte erschwerte. (9/15)

15) Sönke Hansen: Baba Jaga
Die zweite Schwangerschafts- bzw. Geburtsgeschichte der Anthologie kommt als eine klassische Böse-Hexen-Geschichte daher. Eine unfruchtbare Frau aus Schleswig-Holstein wendet sich in ihrer Verzweiflung an dunklere Mächte als üblich, kommt aber mit den Folgen nicht klar. Anders als bei der zweiten Geschichte des Bandes legt Hansen mehr Wert auf den Hintergrund, was der Gesamtqualität zugutekommt. Gute, fast sehr gute Geschichte. (12/15)

16) Michael Dissieux: Das verlassene Dorf
Die Aufzeichnungen eines Mannes, der zusammen mit einem Freund zu einer Forschungsreise in ein verlassenes Dorf bei Gloucester aufbricht, wo in früheren Zeiten etwas Schreckliches passiert ist. Die Geschichte schreit in Setting, Stil und Figurenzeichnung förmlich: LOVECRAFT. Und ganz ehrlich: Ich mag es nicht mehr, wenn Autoren in der 1. Hälfte des 21. Jahrhundert versuchen, so zu klingen wie Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das kann man mal machen, aber Dissieux hat es in meinen Augen in seinen Kurzgeschichten einmal zu oft getan. Ich mag seine dystopischen Romane sehr. Diese Kurzgeschichte mochte ich nicht. (5/15)

17) Isabell Schmitt-Egner: Zirkusmädchen
Hier liegt eine kleine, fiese Rachegeschichte an einem pädophilen Priester vor, die vermeintliche Vorurteile umkehrt. Der, der in der Mitte der Gesellschaft lebt, ist der Böse und der am Rande Lebende erweist sich am Ende als der Gute. Tolle Story. (12/15)

18) Malte S. Sembten: Gott der Tränen.
Ein wahrhaft würdiger Abschluss und letzter Höhepunkt des Buches. Die Geschichte schlägt einen Bogen von der EU-Glühbirnenverordnung zu einer Serienkillergeschichte mit einem Schlenker ins Übersinnliche. Sembten gilt schon seit Langem als einer der besten Vertreter der deutschsprachigen Horror-Kurzgeschichte und stellt mit dieser hier eindrucksvoll unter Beweis, warum das so ist. Sprachlich exzellent, bis ins kleinste Detail mit originellen Ideen gespickt und dabei immer unterhaltsam und spannend. Wie nebenbei gibt es noch einige fundierte und gut recherchierte Informationen zu verschiedenen Themen. Besser geht es kaum. (15/15)

Soweit mein Eindruck zu den einzelnen Erzählungen und wie eingangs schon erwähnt, hat mir nicht jede Geschichte gefallen. Aber der Großteil der Stories war schon auf erschreckend hohem Niveau. Horror Legionen II ist eine gelungene Fortsetzung einer großartigen Idee, die von der Qualität der einzelnen Kurzgeschichten noch höher anzusiedeln ist als der erste Band. Ich hoffe sehr, dass das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht ist und der Verlag die Anthologiereihe weiterführt, denn eines zeigen die Legionen: Es gibt in Deutschland genug Autoren, die es verstehen, eine gute Genre-Kurzgeschichte zu schreiben. Was lange gefehlt hat, waren regelmäßige Publikationsmöglichkeiten. Aber seit ein, zwei Jahren tut sich da etwas (wie ein Blick auf die Anthologienliste 2014 des Vincent-Preis-Blog zeigt).  Und damit das so bleibt, wünsche ich dieser Anthologie viel Erfolg. Sie hätte es verdient.

Zum Schluss möchte ich noch ein Gesamturteil abgeben, da ich das seit Beginn des Jahres so handhabe und ich auch nicht wirklich glaube, dass irgendjemand diese viel zu lange Rezension komplett lesen wird. Wenn ich den Durchschnittswert meiner einzelnen Wertungen der einzelnen Kurzgeschichten nähme, käme ich auf zehn von 15 Punkten. Da eine Anthologie aber mehr ist als die Summe der einzelnen Geschichte, müssen noch andere Dinge in die Gesamtwertung einfließen. Ich finde zunächst Mal Christian Sidjanis Vorwort sehr gelungen und mag den Ansatz wie er sich dem Genre nähert. Dann  ist die zusammengestellte Reihenfolge der Erzählungen stimmig: Es beginnt mit einer klassischen Spukgeschichte und direkt darauf folgt eine eher dem Extrem-Horror zugehörige Geschichte. Der Leser kriegt sofort beide Enden des Genres um die Ohren gehauen. Augustes sehr experimentelle Geschichte ist eingekeilt von zwei Geschichten, die einen sehr „normalen“ Erzählverlauf haben. Man merkt, dass der Herausgeber sich anscheinend Gedanken über die Stimmigkeit Reihenfolge gemacht und es tatsächlich geschafft hat, dass manche Geschichten einen tieferen Eindruck hinterlassen, als sie es getan hätten, wenn man sie einfach nur als eigenständige Geschichte betrachtet hätte. Das bringt also zwei Extrapunkte und führt zu einer fast sehr gute Wertung. (12/15)

Christian Sidjani (Hrsg.): Horror Legionen 2
Lektorat und Korrekturen: Carmen Weinand, Torsten Exter
Umschlaggestaltung: Mark Freier
Amrûn Verlag Jürgen Eglseer, Dezember 2014
389 Seiten
12,90 € (Paperback)
ISBN: 9783944729701

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