Den
Nachfolgeband dieses Romans, "Graues Land – Die Schreie der
Toten", habe ich hier im Blog am 08.03.2013 (nachzulesen hier) besprochen. Damals
schrieb ich, dass ich den Roman als eigenständiges Werk bewerten
wolle. Was natürlich daran lag, dass ich "Graues Land"
noch gar nicht gelesen hatte. Diese Scharte habe ich jetzt ausgewetzt
und versuche mich nun an einer Rezension des Romans. Natürlich
betrachte ich das Buch in erster Linie wieder als ein eigenständiges
Werk.
"Die
Welt hat sich weitergedreht" – so lautet das dem Roman
voranstehende Motto, das aus Stephen Kings "Dunkler-Turm"-Saga
entnommen ist. Nach Terror-Anschlägen in Europa hat sich die Welt
insoweit weitergedreht, dass eine mysteriöse Krankheit oder
Genveränderung aus vielen Menschen mehr oder weniger Zombies gemacht
hat, die versuchen, die restlichen "normalen" Menschen
entweder zu verspeisen oder zu Ihresgleichen zu machen. Und in der
Phase, in der diese Apokalypse beginnt, lernen wir Harv kennen. Harv
ist ein alter Mann, der sich um seine demente Frau Sarah kümmert.
Die beiden wohnen ziemlich abgelegen in der Nähe der kleinen Stadt
Devon in den USA. Da selbst der Zeitungsjunge Darryl nicht mehr
allmorgendlich die Zeitung bringt und auch die Fernsehsender den
Betrieb eingestellt haben , muss Harv davon ausgehen, dass außer ihm
und Sarah nicht mehr allzu viele Menschen in der Umgebung leben. Ihm
sind auch schon "Verwandelte" (er als Lovecraft-Fan nennt
sie Shoggoten) begegnet, so dass er mit dem schlimmsttn rechnet. Die
Versuche Kontakt zu seinen nächsten Nachbarn aufzunehmen, verlaufen
nicht so, wie er sich das vorstellt und der Kontakt zu seinem Sohn
und dessen Familie ist auch abgebrochen.
"Graues
Land" ist eine Dystopie. Aber anders als viele andere Dystopien
spielt dieser Roman auf sehr engem Raum. Es ist zwar kein reines
Kammerspiel, aber es geht schon stark in diese Richtung. Der
Haupthandlungsort ist Harvs und Sarahs Haus. Harv verlässt das Haus
und seine direkte Umgebung genau dreimal. Und da der Roman in der
ersten Person aus Harvs Perspektive erzählt ist, verlassen wir als
Leser auch nur dreimal die direkte Umgebung des Hauses. Auch die, ich
nenne sie der Einfachheit halber Zombies, kommen als handelnde
Personen recht selten vor. Unterschwellig sind sie für de Leser aber immer in der Nähe.
Harvs Aktionen und seine Gedanken sind getragen von Angst. Angst vor
den von ihn so genannten Shoggoten, Angst um seine Frau Sarah, Angst
um seine Nachbarn, Angst um seinen Sohn und dessen Familie. Und diese
Angst wird durch seine Gedanken transportiert. Ein Großteil des
Buches ist zwangsläufig ein innerer Monolog, da Harv alleine mit
Sarah in dem Haus lebt. Es gibt einige mehr als rührende Sequenzen,
die die Liebe Harvs zu seiner Frau ausdrücken. Zum Beispiel als er
es irgendwie möglich macht, nochmal ihren Lieblingsfilm "Casablanca"
zu schauen. Das ist einfach nur schön, aber zugleich auch unendlich
traurig, da Sarah durch ihre Krankheit, das alles gar nicht richtig
miterlebt.
Der
Roman ist eine private Geschichte. Ich kam mir vor, als ob ich durchs
Schlüsselloch das Leben Harvs beobachtet habe. Und die
Auswirkungen, die eine globale Katastrophe auf privates Glück oder
Unglück hat, zeigen eher als manch actiongeladener Dystopie-Reißer die
Grausamkeit einer solchen Situation auf. Man leidet als Leser mit dem
alten Mann mit, man freut sich mit über die Erinnerungen an
vergangene, glücklichere Zeiten und man hat zusammen mit Harv Angst,
vor dem, was kommt. Zur letzten Konsequenz fehlte Dissieux aber dann
wahrscheinlich doch der Mut. Irgendwann im Verlauf der Handlung
kommen dann auch noch andere Figuren ins Spiel. Das treibt natürlich
die Handlung voran, was in Spannungsromanen nicht unwichtig ist, aber
ich glaube, dass das Buch emotional aufwühlender geworden wäre, wenn es sich
auf alleine auf Harv und Sarah als handelnde Personen beschränkt
hätte.
Trotzdem
ist "Graues Land" eine Perle unter der Vielzahl an
dystopischen Romanen, die in den letzten Jahren erschienen sind. Der
Protagonist ist eine der sympathischsten Figuren, die mir in einem
Buch begegnet ist. Es ist zwar abgedroschen, aber hier stimmt es. Man
fiebert mit dem guten, alten Harv mit. Man wünscht ihm alles
erdenklich Gute, aber man weiß auch, dass es in einer Welt, wie sie in
dem Roman beschrieben ist, mit großer Wahrscheinlichkeit nicht das Gute siegen
wird.
Zum
Schluss doch noch ein kurzer Vergleich zum Nachfolger "Schreie
der Toten". Den habe ich in meiner Rezension ein Road-Novel
genannt. Also fast schon das Gegenteil von einem Kammerspiel. Das
macht diese beiden Romane zusätzlich noch interessant. Das sie in
der Form so gegensätzlich sind. Mir gefällt "Graues Land"
ein wenig besser als der Nachfolgeband, weil in diesem Roman die
ausgelatschten Pfade des dystopischen Romans verlassen werden.
"Schreie der Toten" verläuft von der Handlung her ähnlich wie
viele andere Apokalypsebeschreibungen. Dafür merkt man aber bei
"Schreie der Toten", dass Dissieux noch sicherer im Umgang
mit der Sprache geworden ist. "Graues Land" kommt an
einigen wenigen Stellen noch etwas holprig daher. Aber das sind alles nur marginale Kritikpunkte. Wer die beiden Werke noch nicht kennt, sollte
dies schleunigst nachholen. Am besten macht man es nicht so wie ich,
sondern in der richtigen Reihenfolge. Dann kann man die Querverweise
im zweiten Band sofort beim Lesen erkennen. Und sollte es zu einem
dritten Band kommen, werde ich auch bedenkenlos zugreifen.
Fazit:
Fast schon kammerspielartiger
dystopischer Roman, der in einem Mikrokosmos mit einem sympathischen
Ich-Erzähler den Schrecken einer globalen Katastrophe und deren Auswirkungen auf das Individuum glaubwürdig
darstellt.
Michael Dissieux: Graues Land
Titelbild: Timo Kümmel
Illustrationen: Nenad Becarevic
Luzifer Verlag, Dezember 2011
276 Seiten
14,95 €
ISBN: 978-3-943408-02-7
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